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Das Bild vom Kind

Du sollst das Kind nicht „anders“ machen wollen,
als es ist – aber du sollst ihm helfen,
anders zu werden, wenn es das will.
Du sollst aber vor allem nicht machen,
dass es will.

(Hartmut von Hentig)

Lara hat Geburtstag! Sie wird heute zwei Jahre alt. Auf dem Tisch steht ein Kuchen, hübsch mit bunten Smarties und Geburtstagskerzen verziert. An der Kaffeetafel sitzen Großeltern und Paten mit farbenfrohen Päckchen auf den Schößen und freuen sich über die Vitalität der blondgelockten, schlafwangigen Zweijährigen.

Das Kerzen auspusten funktioniert noch nicht wirklich gut, aber nachdem die Erwachsenen geholfen haben, wird diese Handlung mit schallendem Applaus bedacht, während das Geburtstagskind von der Huldigung völlig unbeeindruckt eine Kerze stibitzt, die Fingerchen in den noch flüssigen Wachs tunkt und erstaunt die dann verklebte Hand betrachtet. Doch hierfür haben die erwartungsfrohen Gäste jetzt keinen Sinn, warten viel mehr gespannt darauf, dass das Kind doch nun bitte „ihre“ Präsente auspackt. Das Mädchen, mit seiner Aufmerksamkeit noch ganz bei seiner klebrigen Hand, wird mit allerlei praktischen Hinweisen dazu ermutigt, nun mit dem Auspacken zu beginnen. Irritiert fängt es an, buntes Geschenkpapier in kleine Stücke zu reißen. Das macht Spaß, doch schon sind da wieder große Hände, die „hilfreich“ beispringen, doch endlich den schönen Puppenwagen von der lästigen Hülle zu befreien. „Schau mal! Der ist aber schön!“ Mit solchen und ähnlichen Worten versuchen die Erwachsenen die Aufmerksamkeit des Kindes auf die kleine Kostbarkeit zu lenken. Davon völlig unbeeindruckt wendet Lara sich weiter dem bunten Papier zu, zerreißt es, jauchzt, klatscht in die Hände vor Wonne und reißt weiter. Noch mal und noch mal und so entgeht ihr völlig das lange Gesicht von Tante Hanna und der beißende Spott von Onkel Karl, das man dann ja im nächsten Jahr „nur“ mit Verpackungsmaterial kommen könne. Reichlich entnervt wendet sich Mama ihrer kleinen Tochter zu, bewundert die gerissenen Kunstwerke, besorgt eine Schachtel, in die die Schnipsel einsortiert, ausgeschüttet und wieder einsortiert werden. Laras Mutter könnte jetzt eingreifen und ihr zeigen, wie man einen Puppenwagen richtig benutzt. So hin und her fahren, die Puppe hineinlegen und sich um sie kümmern. Könnte sie, wenn sie ein Bild vom Kind hätte, wie es die Erwachsenen ihrer Kindheit hatten: Nämlich, dass Erwachsene die Kontrolle über die Entwicklung von Kindern haben müssen. Die Großen sind die „Chefs“, denn sie wissen, was für Kinder gut ist, besser als die Kinder selbst. Sie wissen, was gerade dran ist zu lernen, und wie. Sie sind verantwortlich für ihre Kinder. Erwachsene können darauf bestehen, dass Kinder einsehen müssen: Alles was Erwachsene für Kinder tun, ist zu ihrem Besten. Kinder können das eigene Beste für sich nicht selbst wahrnehmen, noch nicht. So war es schon immer. Kinder sind noch keine richtigen, vollwertigen Menschen, sondern nur Kinder, die durch Erwachsene erst zu richtigen Menschen gemacht werden müssen, mit Erziehung und Bildung.

Deshalb bestimmen die Erwachsenen die Ziele der Entwicklung von Kindern. Laras Mutter hat aber ein anderes Bild vom Kind und den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern: Das Kind ist von Geburt an ein kompetentes und soziales Wesen, das mit seinen Bezugspersonen kooperieren möchte. Es ist mit seinen Bedürfnissen und Rechten sozialer Akteur oder Akteur seiner selbst, es hat die Rolle als „Hauptfigur seiner eigenen Entwicklung“ inne und konstruiert sich sein Bild von der Welt selbst. Jedes Kind ist ein Individuum, das eine ganz eigene Weltsicht hat und seine individuelle Identität ausprägt. Nicht: Hier oben der Erwachsene, der schon ein richtiger vollwertiger Mensch ist und da unten ein junger Mensch, der Erziehung und Bildung braucht, um ein richtiger Mensch zu werden. Sondern ein anderes Bild: Kinder sind vollwertige Menschen von Geburt an und für sich selbst verantwortlich. Sie gehören sich selbst.

„Erwachsene haben ihre Identität, Kinder haben ihre Identität. Und wie immer ihre Identität ist und sich entwickeln mag, sie existiert und ist bei aller Verschiedenheit doch gleichwertig. Vor dieser real existierenden Identität eines jeweiligen Erwachsenen und dieser real existierenden Identität eines jeweiligen Kindes aus werden Beziehungen hergestellt. Von Person zu Person, von Identität zu Identität, von Ich zu Ich. Der Erwachsene sucht seinen Weg zum Kind vom „Ich“ her, er bringt sich mit den Facetten seiner Persönlichkeit in die Beziehung zum Kind ein, so wie er das jeweils will und kann. Er ist dabei ohne Mission, ohne Auftrag, ohne Methodik, ohne List. Er ist authentisch, situativ, flexibel: er ist eben so, wie er gerade ist, mit Ecken und Kanten, Vorschlägen und Ermutigungen, Grenzen und Hoffnungen.“

Und wie ist das nun mit der Bildung? Auf welche Weise lernen Kinder, wenn sich Erwachsene der neuen Sicht vom Kind bedienen? Forscher behaupten, dass das Kind seine Bildungsprozesse selbst initiiert und steuert, wenn es sich sicher und geborgen fühlt in Beziehungen mit Menschen, die das neue Bild vom Kind leben. Dass das Kind, angetrieben durch seine angeborene Neugier und die Gewissheit, dass es schon von Anfang an ein vollwertiger, für sich selbst verantwortlicher Mensch ist, nach außen strebt, um seine Umwelt spielerisch zu erkunden, mit ihr zu kommunizieren und eigene Erfahrungen zu sammeln. Dass es, wenn es auf diesen Abenteuern durch irgendetwas, noch nicht Vertrautes verunsichert wird, zurückkehrt zur sicheren Basis, zu seiner Bezugsperson. Die braucht es in diesem Moment zuverlässig, um Sicherheit und Geborgenheit zu haben. Unter solchen Rahmenbedingungen finden Prozesse statt, die die Forscher als Selbstbildung bezeichnen. Es findet eigenverantwortliches und interessengeleitetes Lernen statt, das auf ein „inneres Ziel“ des Kindes ausgerichtet ist.

Kinder sind von Geburt an mit allen Kräften bemüht, sich ein Bild von der Welt zu machen und ihre Fähigkeiten ständig zu erweitern. Sie „be-greifen“ forschend ihre Umgebung, stellen sich „Untersuchungsfragen“ und suchen nach Antworten. Im Laufe ihrer Entwicklung erweitern sie ganz ohne Aufforderung ihre Wirkungskreise – und stellen sich auf diese Weise ihr eigenes „Bildungsprogramm“ zusammen. Die Kinder bestimmen also selbst, wann sie lernen, wie sie lernen und natürlich auch was sie lernen. An Laras Verhalten können wir Erwachsenen diese Erkenntnisse gut nachvollziehen. Wenn Laras Mutter sie bei ihrer Beschäftigung mit dem Geschenkpapier beobachtet ist unübersehbar: Da findet Lernen statt.